Rede von Herrn Heiner Hoffmeister, MK Niedersachsen

 

Verband der Elternräte der Gymnasien Niedersachsens

Herbsttagung 2013

Hannover, 2. November 2013

Das Gymnasium – Zugpferd des deutschen Bildungswesens !

Rede: Josef   K r a u s , Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL)

(Anrede)

Vor Gymnasialeltern mal nicht als Schulleiter, sondern als außerparlamentarische Bildungspolitiker zu sprechen, das ist eine reizvolle und zugleich höchst herausfordernde Sache. Was sagt man den Eltern? Was wollen sie hören? Wo sind die Fettnäpfchen?

Ich erahne die Antworten, aber ich kenne die Antworten nicht genau. Deshalb rede ich, wie mir der Schnabel gewachsen ist, und verzichte auf alle politisch und pädagogisch korrekten Verrenkungen und Rundlutschungen – felsenfest darauf vertrauend, dass Sie, wie Sie hier sitzen, genauso wie ich ein starkes Gymnasium in Deutschland und zumal in Niedersachsen haben wollen: für unsere Kinder und um dieses Landes willen.

Nun ist es in bildungspolitischen Zeiten wie diesen nicht einfach, eine ausgewogene und gelassene Rede zu halten. Wie soll man auch gelassen gestimmt sein in Zeiten, in denen der Nation entscheidende bildungspolitische Frage zu sein scheint, ob nicht die uniforme, OECD-gerechte Vollkasko-Schule mit 120prozentiger Abiturientenquote die Schule der Zukunft sein solle.

Pardon! Aber manch real existierende Bildungspolitik in Deutschland tut so, als müsse sie Wilhelm von Humboldt endgültig an den Kragen.

Folge:

  • Die Universitäten werden im Zuge von „Bologna“ verschult und standardisiert; an die Stelle einer Orientierung an Wissenschaft tritt eine modulare workload- und credit-point-Orientierung an Bildungshäppchen.
  • Zugleich werden die Gymnasien von manchen Leuten umdefiniert zu Anstalten, deren Zweck die möglichst rasche Abrichtung auf Beruf und Erwerb ist.

Natürlich hat das Gymnasium seit seinem Bestehen Wandlungen erlebt, aber alles in allem war das Gymnasium mit seinem Anspruch der Vermittlung umfassender Allgemeinbildung und der Studierbefähigung bis zuletzt Zugpferd, Flaggschiff und Leuchtturm, auch Bollwerk, Konstante und (!) soziale Steigleiter des deutschen Bildungswesens.

Das droht vorbei zu sein. Teile der Wirtschaft etwa möchten gymnasiale Bildung verzweckt, beschleunigt, tauglich für ein Ranking und auf hohen Abiturienten-Ausstoß getrimmt sehen.

Mit den Leitlinien einer Schulform, die die erfolgreichste und im Bildungsverständnis breiteste der Welt wurde, haben dieser Bildungs-technizismus und dieser Machbarkeitswahn nur noch wenig zu tun.

Darf ich einmal als Advocatus Diabolo den furiosen Gymnasial-Hasser geben und mir trickreich ausmalen, wie ich das Gymnasium qua innere Entkernung zerschlagen würde, ohne dass es jemand merkt?

Folgendes würde ich machen. (Ähnlichkeiten mit realer Politik sind zufällig):

  • Ich würde erstens die genuine Gymnasiallehrerausbildung abschaffen …..
  • Zweitens die Lehrpläne der Schulformen einander angleichen.
  • Drittens den Elternwillen bei der Wahl der weiterführenden Schulform freigeben.
  • Viertens einen inhaltlichen Nihilismus der Lehrpläne betreiben und die Lehrpläne zu kompetenzorientierten Leerplänen verkommen lassen.
  • Fünftens das Gymnasium oben und unten amputieren: oben die 9. Klasse enthaupten und unten die Grundschule verlängern.
  • Sechstens würde ich das Gymnasium in ein parallel laufendes G8 und ein G9 atomisieren.
  • Siebtens das Sitzenbleiben – oder gar die Noten – abschaffen.
  • Achtens die Inflation guter und sehr guter Abiturnoten ankurbeln. (Siehe 1,0-Noten in NRW und Hessen!)

Bildhaft ausgedrückt: Aus der Eiche Gymnasium würde damit rasch ein Bonsai-Gymnasium. Und aus dem Bildungsziel des Gymnasiums, nämlich der Vermittlung von Studierfähigkeit, würde die bloße Vergabe einer Studierberechtigung.

Abitur-Vollkasko-Politik eben!

Jedenfalls stimmen die Proportionen nicht mehr. Humboldt dürfte gar nicht mehr zur Ruhe kommen in seiner Gruft in Berlin-Tegel, wenn er manch geplante „gymnasiale“ Bildung an einem Grundsatz mäße, den er 1792 formulierte: „Der wahre Zweck des Menschen ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“

Das mag antiquiert klingen, ist aber sehr zeitgemäß. „Proportionierlich“ heißt nämlich: Alle Anlagen müssen gleichermaßen gefördert werden, hinsichtlich der verschiedenen Bildungsbereiche müssen die Proportionen stimmen.

Jedenfalls sind unsere schulpolitischen und schulpädagogischen Debatten in Deutschland, zumindest in einigen deutschen Ländern, außer Tritt geraten, auch wenn sie forsch-verbal-aktionistisch daherkommen.

Angesagt scheinen für „Bildung“ ja nur noch – verstärkt seit PISA: Marketing, Educ@tion, didaktische Hyperlinks, Download-Wissen, Just-in-time-Knowledge usw. Fehlt nur noch ein „Last Minute Learning“, wenn dieses Schüler nicht schon längst erfunden hätten.

Logorrhoe bzw. Graphorrhoe heißt ein solches Erscheinungsbild – psychiatrisch weniger Bewanderte nennen es pure Geschwätzigkeit.

Karl Kraus, der Wiener Lästerer, würde sagen: „Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben; man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.“

Vor allem scheint Controlling und nochmals Controlling angesagt: TIMSS II, TIMSS III, PISA 2000 – 2003 – 2006 – 2009 – 2012, PISA-E, IGLU, IGLU-E, DESI, VERA usw.

Gegen Bilanzen ist grundsätzlich zwar nichts einzuwenden. Aber allein vom Puls- und Fiebermessen wird man nicht gesund — außer man ist ein Hypochonder.

Nein, sage ich, ein Land,

  • das solche Debatten inszeniert,
  • das obendrein seine Schulen mit Dummheit pur umzingelt, indem es etwa die sog. Autobiographien von silikon-gestylten oder besenkammererfahrenen Prolo-Promis in die vordersten Rangplätze der Bestsellerlisten und Einschaltquoten hievt …..
  • das Bildung in öffentlich-rechtlichen TV-Programmen mit Skandalrappern und Blödelentertainern debattiert,

ein solches Land braucht eigentlich keinen PISA-Test mehr.

Genug der weniger erfreulichen Einleitung!

Ich möchte ein Gymnasium, das Zugpferd unseres Bildungswesens bleibt bzw. wieder wird.

Nun, das Gymnasium hat 200 Jahr Vergangenheit und 2000 Geschichte hinter sich. Es ist damit ein wichtiger Teil der europäischen Kulturgeschichte. Und es hat eine einzigartige Erfolgsgeschichte.

Es waren jedenfalls gymnasiale und humanistische Revolten gewesen, die auch im naturwissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Bereich die Grundlage für den Aufstieg des Landes der Dichter, Denker und Erfinder waren.

Und selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das Gymnasium – noch! – die Konstante des deutschen Bildungswesens schlechthin. Festzuhalten ist auch: Nicht die Gesamtschule, sondern das Gymnasium war und ist die Aufsteigerschule, das Gymnasium bewerkstelligte die Heranführung von sog. Bildungsreserven an höhere Bildung.

Und auch in Mitteldeutschland, wo man die Gymnasien in den Jahren ab 1950 aufgelöst hat, erlebte das Gymnasium unmittelbar mit der friedlichen Revolution von 1989 und 1990 seine Renaissance.

Das Gymnasium in Deutschland liefert zudem über ganz Deutschland hinweg ein recht homogenes Leistungsbild. Jedenfalls fällt auf, dass das allgemeine innerdeutsche Gefälle bei den Gymnasien weniger steil ausgeprägt ist. (Beim Gymnasium sind es 46 PISA-Punkte Differenz, bei den nichtgymnasialen Schulformen bis zu 100 PISA-Punkte.)

Diese unterschiedlichen Gefälle haben wohl damit zu tun, dass es in Deutschland keine Schulform gibt, deren Identität und deren Festhalten an traditionellen Standards so ausgeprägt sind wie an den Gymnasien. Man darf zudem vermuten, dass sich die Gymnasien sogar in sog. Reformländern am erfolgreichsten gegen Nivellierungen zur Wehr gesetzt haben. Umgekehrt haben die schwächeren deutschen PISA-Länder mit ihren „Reformen“ eher die nichtgymnasialen Schulformen „deformiert“.

Aber schauen wir in die Zukunft! Ich will  s i e b e n  gymnasialpolitische /-pädagogische Handlungsfelder skizzieren, auf die es meines Erachtens in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ankommt.

Das entscheidende Bildungsziel des Gymnasiums ist und bleibt die Vermittlung einer umfassenden Allgemeinbildung.

Basis dafür ist ein breit angelegter Fächerkanon. Der gymnasiale Fächerkanon unterscheidet sich zwar nur teilweise bzw. vor allem bei den Sprachen von dem anderer Schulformen. Die Differenz aber besteht darin, dass Bildungsinhalte am Gymnasium breiter, vertiefter und mit höherem Abstraktionsgrad behandelt werden können.

Fächerkanon heißt aber auch: Jeder Fächer-Mischmasch ist nicht-gymnasial. Unsere Fächer heißen im wissenschaftlichen Bereich nicht umsonst Disziplinen. Sie heißen deshalb Disziplinen, weil sie das disziplinierte Erschließen von Inhalten und nicht ein überfachliche Wischiwaschi anstreben. Nichts gegen Überfachlichkeit: Aber erst muss das konkrete fachliche Wissen da sein, sonst wird aus dem Überfachlichen zu leicht eine Vernetzung von Nullmengen.

Als charakteristisch kommt hinzu, dass das Gymnasium eine Schule der Sprachen ist. Einschließlich der Muttersprache hat ein Gymnasiast mindestens drei, ggf. können es inkl. Deutsch fünf Sprachen sein, die auf dem Stundenplan stehen. Der Vorrang der Sprachen (auch des Lateinischen) sowie die Fächer Religion/ Ethik, Geschichte, Kunst und Musik macht das Gymnasium zudem zu der europäischen Schule par excellence, denn in keiner anderen Schulform Deutschlands und Europas begegnen junge Menschen in so weitem Umfang europäischer Kultur.

Das Gymnasium muss auch nicht allen fachlichen Moden folgen, denn das Gymnasium hat Inhalte zu vermitteln, die von Bestand sind; es kann und muss sich auch angesichts kürzerer Halbwertszeiten des Wissens inhaltlich nicht ständig neu erfinden, denn der Kernbestand gymnasialer Bildung – der sprachliche und kulturelle – zeichnet sich aus durch ein Wissen, das sehr lange Halbwertszeiten des Wissen hat.

Die auch in hoher Schulpolitik verbreitete quasi-souveräne Schnoddrigkeit, breite Allgemeinbildung und umfassendes Allgemeinwissen quasi als Sperrmüll abzutun (siehe die Debatte um curriculare Entrümpelungen), das ist ein Symptom von Halb- oder Unbildung: In dieser Hinsicht gilt wohl Theodor Adornos Urteil von 1959: Das Halbverstandene und Halbgewusste ist nicht die Vorstufe von Bildung, sondern ihr Todfeind!

Vor allem aber gilt: Wer nichts Konkretes weiß, muss alles glauben. Am Ende stünden Unmündigkeit und Verführbarkeit

Ein zukunftsfähiges Gymnasium ist eine Schule der Leistung.

Ein Kernproblem der sog. modernen Pädagogik ist eine um sich greifende Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik, die so tut, als ginge alles ohne Anstrengung. Jedenfalls ist es in den vergangenen vier Jahrzehnten „schick“ geworden, schulische Leistung zu diskriminieren. Subtil begann diese Diskriminierung bereits mit entsprechenden Konnotationen: Da ist im Zusammenhang mit Schule die Rede von „Leistungsstress“, „Leistungsdruck“, „Leistungsterror“.

Mittelbar finden diese – und noch schlimmere – Diskriminierungen von Leistung in der politisch bzw. administrativ verordneten Schulpraxis ihren Niederschlag:

  • in der Liberalisierung der Notengebung, gar deren Abschaffung;
  • in der Abschaffung des pädagogisch sinnvollen Instruments des Sitzenbleibens;
  • in der Geringschätzung konkreten Wissens;
  • im Verzicht auf Auswendiglernen und Kopfrechnen;
  • in der Geringschätzung überdurchschnittlicher Begabung.

Wer aber das Leistungsprinzip solchermaßen untergräbt, setzt zugleich eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht oder dergleichen Allokationskriterien – Kriterien zur Positionierung eines Menschen in der Gesellschaft. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung vor den Erfolg und vor den Aufstieg gesetzt. Ein revolutionärer Fortschritt! Und eine große Chance für jeden Einzelnen zur Emanzipation!

Und ein weiteres: Indem aktuelle Schulpolitik das Leistungsprinzip ignoriert, belastet und gefährdet es das Sozialstaatsprinzip. Die soziale Dimension unseres Wirtschaftssystems trägt nur, wenn ihr die millionenfache Leistung und Leistungsbereitschaft der Menschen zugrundeliegt. Leistung ist insofern nie nur Individualleistung für die Erfüllung persönlicher Karrierewünsche, sondern stets auch soziale Leistung – Leistung für andere, für Schwächere und Benachteiligte.

Leistung ist außerdem Ausdruck des Höchstindividuellen, Motor und Ergebnis freier Persönlichkeitsentwicklung. Deshalb ist Leistungsfeindlichkeit ein Anschlag auf das Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung.

Ich plädiere für eine soziale Leistungsschule und für eine Schule der Anstrengungsbereitschaft. Gewiss brauchen wir keine freudlosen Paukschulen. Wir brauchen vielmehr Schulen, die den Kindern Freude machen. Solche Freude-Erlebnisse sind freilich nie ein Geschenk, das wie der Lotto-Treffer plötzlich da ist. Gemeint ist hier Freude vielmehr als ein Geschenk, für deren Erwerb man aktiv etwas tun kann – nämlich Anstrengung zu investieren. Nur bei solcher Investition – Psychoanalytiker würden sagen: unter Bedürfnis- und Triebaufschub – ist das tiefere Erleben von Freude, von Stolz oder gar von Glücklichsein möglich.

Zum spaßhaften Zeitvertreib aber ist die Zeit in der Schule zu kostbar: Eine Schule, die überwiegend dem Spaß dient, vertreibt die Zeit nicht nur, sondern sie vergeudet Zeit. Deshalb gilt: Schule soll die „Kinder in Anspruch nehmen“ (E. Spranger).

Wir dürfen und sollten unseren Kindern also durchaus etwas mehr zumuten, aber auch zutrauen!

Deshalb ist auch die Dialektik Fördern statt Auslesen grundfalsch. Es ist dies kein Gegensatz, denn es muss heißen: Fördern durch Differenzieren!

Ein wenig hinsichtlich Anspruchs und hinsichtlich Inhalten dezent elitäres gymnasiales Bewusstsein mag schon sein.

Man erschrecke nicht: Ganz bewusst will ich im Kontext mit Gymnasium ein paar Gedanken zum Thema „Elite“ beitragen!

Dass Elite für die 68er als reaktionär, gar krypto-faschistisch galt, ist bekannt. Und auch heute noch scheint der Grundsatz zu gelten: Elite ist schlecht, Attacke gegen Elite gut.

Tatsächlich stecken dahinter aber nichts anderes als die schier para-religiöse Ideologie des Egalitarismus und die Negation aller Unterschiede zwischen Menschen: Was nicht alle sind, darf offenbar keiner sein; was nicht alle haben, darf keiner haben; was nicht alle können, darf natürlich keiner können. So scheint es.

Damit kein Zweifel aufkommt: Natürlich gibt es pseudo-elitäre Abzocker in Nadelstreifen, gewiss gibt es den Dünkel von Steuerflüchtigen und „Celebrities“. Aber weder solches Gehabe noch der Missbrauch von Elite durch Faschismus und Bolschewismus machen Elite überflüssig. Vielmehr gilt: Je komplexer und differenzierter Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft, umso mehr sind wir auf Eliten (Plural!) angewiesen.

Demokratie in Deutschland darf nicht zum Diktat des Durchschnitts werden. Das wäre zumal in einer hochkomplexen Welt und in einer Welt des explodierenden Wissens naiv. Aus Demokratie darf kein „Konvent von ungefähr gleich Unwissenden“ (Peter Sloterdijk) werden. Eine solche Gesellschaft wäre zur Stagnation verurteilt.

Will sagen: Wir brauchen Leistungs- und Verantwortungseliten …., die zugleich Reflexions- und Werte-Eliten sind. Vor einem solchen Hintergrund ist selbst Ungleichheit gerecht – nämlich dann, wenn Elite allen nützt, wenn das Handeln von Eliten quasi zu einem „inequality surplus“, zu einem Mehrwert führt. (Aus sozialstaatlichen, sozialpolitischen, sozialethischen Gründen auch führen muss!)

Ein diffuser Anti-Elitismus hilft keiner Demokratie weiter. Und umgekehrt ist eine Demokratie – wie Weimar zeigt – dann in größter Gefahr, wenn ihr die Eliten die Loyalität entziehen.

Was brauchen wir? Wir brauchen ein Verständnis von Elite, bei dem neben dem Karrieregedanken der Gedanke des Dienens und des Respekts eine maßgebliche Rolle spielt. Das hat viel mit Pädagogik zu tun. Und das gilt zumal für Machteliten, deren Spitzen nicht umsonst „Minister“ (von lateinisch ministrare = dienen) heißen. Plakativ könnte man sagen: Elite heißt Verdient-Machen durch Dienen am Gemeinwohl.

All dies mit zu fördern ist die Chance und die Herausforderung für unsere Schulform Gymnasium! Diese Chance bietet sich dem Gemeinwesen via Gymnasium aber nur, wenn man in der Kategorie Qualität und nicht in der Kategorie Quote denkt.

Bildung muss gerecht sein. Aber: Wir haben Grund, die aktuelle Debatte um „Bildungsgerechtigkeit“ kritisch zu durchleuchten!

Der Begriff der Bildungsgerechtigkeit scheint nämlich zur clever gewählten Kampfvokabel in der schulpolitischen Auseinandersetzung geworden. Diese Debatte ist aber schief, weil sie als gerecht vorgibt, was gleich macht, und weil sie im Endeffekt nichts anderes tut, als die eigene Ideologie der Gleichmacherei verbal zu adeln.

Ja, es muss Chancen geben. Aber Chancen sind Chancen und keine Garantien. Das Gemeinwesen hat hinsichtlich Chancen eine Bringschuld. Aber die Nutznießer haben auch eine Holschuld. An der Bereitschaft, die Chancen abzuholen freilich mangelt es um so mehr, je mehr sich das Gerede verbreitet, dieses deutsche Schulwesen sei ungerecht.

Verweilen wir kurz bei diesem Vorwurf: In der derzeit geführten Debatte um Bildungsgerechtigkeit beruft man sich immer wieder auf PISA-Daten. Das ist in diesem Kontext wissenschaftlich-methodologisch aber völlig unmöglich: PISA testet Fünfzehnjährige inmitten ihrer Bildungslaufbahn, aber nicht an deren Ende. Wenn dann unter Berufung auf PISA-Daten gejammert wird, nur soundsoviele Prozent der Arbeiterkinder seien am Gymnasium, dann wird hier völlig unterdrückt, dass man solche soziologischen Analysen erst beim Zwanzigjährigen machen kann.

Leider aber ist in Deutschland, wenn von Durchlässigkeit im Schulsystem die Rede ist, immer nur von der horizontalen Durchlässigkeit die Rede, also von den Möglichkeiten, „quer“ zwischen den Schulformen zu wechseln. Daneben muss man vor allem die vertikale Durchlässigkeit des Schulwesens sehen.

Hinsichtlich dieser vertikalen Durchlässigkeit ist es mit dem deutschen Schulwesen nicht eben schlecht gestellt. Über alle deutschen Länder aufsummiert, gibt es rund 50 Wege zur Hochschulreife. Es gibt also keine schulischen Sackgassen. Im besonderen sollte auch berücksichtigt werden, dass es gerade das hochdifferenzierte berufliche Schulwesen in Deutschland ist, das früheren Haupt- und Realschülern hochqualifizierte Bildungswege zu anspruchsvollen Berufen und auch zur Hochschulreife bietet. Und vor allem: Rund die Hälfte der Studierberechtigten in Deutschland erwirbt eine Hochschulreife nicht über das Gymnasium. Unter diesen 50 Prozent wiederum sind Kinder aus sog. bildungsfernen Schichten sehr stark repräsentiert.

Außerdem muss festgehalten werden: Am ausgeprägtesten ist die soziale Selektivität des Bildungswesens in Ländern mit flächendeckendem öffentlichem Einheitsschulsystem und kostspieligen Privatschulen.

Gesamtschule dagegen – wie auch immer sie heißen mag – hat Jahrzehnte durchschlagender Erfolglosigkeit hinter sich. Hinsichtlich Leistung und hinsichtlich sozialer Durchlässigkeit!

Im übrigen wäre hinsichtlich Leistung und hinsichtlich Durchlässigkeit noch mehr möglich, wenn man den Gymnasien – wie allen Schulformen! – die Möglichkeit böte, sich individueller und intensiver um Problemschüler zu kümmern. Ich schlage dazu einen zehnprozentigen Stundenpool für jede Schule vor. An einem Gymnasium mit rund 800 Schülern bedeutet das rund zusätzliche 120 Wochenstunden. Mit diesen Stunden kann man in Krankheits- und Fahrtenwochen Unterrichtsausfall minimieren und in den vielen anderen Wochen Förderkurse für Spitzen- und Risikoschüler einrichten. Die Finanzierung müsste in Gottes Namen möglich sein, denn es geht hier nur um einen Zuschlag von 0,5 Prozent zu den ohnehin nur fünf Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt, die wir für Bildung ausgeben.

Die Kompetenzenpädagogik droht zum Trojanischen Pferd für das Gymnasium zu werden.

 „Kompetenz“ – dieser Begriff macht ungebremst Karriere:

  • Kompetenzen stehen beim Bologna-Prozess im Zentrum, also bei den Bachelor- und Masterstudiengängen
  • Kompetenzen durchsetzen den „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen- für Sprachen“
  • Kompetenzen besetzen die Berufsbildungsordnungen.
  • Kompetenzen dominieren die Debatte um den Europäischen und den Deutschen Qualifikationsrahmen
  • Kompetenzen erobern mehr und mehr die Curricula der Schul

Reden wir also von Kompetenzen!

Ich zähle ’mal – gewiss unvollständig – ein paar (an die zwanzig) dieser Kompetenzen auf, die ich in deutschen Curricula fand: Methoden-Kompetenz, Lern-Kompetenz, Medien-Kompetenz, Führungs-Kompetenz, professionelle Kompetenz, Umsetzungs-Kompetenz, Human-Kompetenz, Kritik-Kompetenz, mentale Kompetenz, Kern-Kompetenz, Frage-Kompetenz, Orientierungs-Kompetenz, Begriffs-Kompetenz, Strukturierungs-Kompetenz, Analyse-Kompetenz, Wahrnehmungs-Kompetenz, Urteils-Kompetenz, De-Konstruktions-Kompetenz, Re-Konstruktions-Kompetenz, Narrative Kompetenz …

Und dann immer wieder

  • die Handlungs-Kompetenz (die boshafte Leute übersetzen mit „Dübeln statt Grübeln“)
  • und die Selbst-Kompetenz, zum Beispiel in Form von Selbstentfaltung, Selbstevaluation, Selbstregulierung, Selbstverwirklichung, Selbstzentrierung.

Einmünden sollen all diese Kompetenzen auf einer elaborierten,  intermediären oder  basalen Ebene in eine Sprach-, Lern-, Sozial- und Personal-Kompetenz oder auch in Vertikal-, Horizontal- oder gar Meta-Kompetenzen. (Fehlt nur noch die Inkompetenz-Kompensations-kompetenz!)

Kompetenzen sind also in aller Munde. An der Münchner Fachhochschule gibt es seit 2003 sogar eine Professorin für Schlüsselqualifikationen. Sie wirbt für Ihre Veranstaltungen zur Schulung von „soft skills“ unter anderem mit dem Slogan: „Fakten haben ausgedient.“

Nun, wo von Kompetenzen gesprochen und geschrieben wird, ist der Begriff der „Bildungsstandards“ nicht weit. Für mich ist allerdings allein schon dieser Begriff schief. Er ist mir ein Greuel, denn Bildung kann man nicht standardisieren, weil man Bildung nicht uniformieren kann.

Dementsprechend halte ich zum Beispiel die Bildungsstandards der KMK für die Allgemeine Hochschulreife im Fach Deutsch (Entwurf vom August 2011) für einen Schuss in den Ofen. Es werden dort sage und schreibe 94 Kompetenzen aufgelistet – alle verbal gigantisch überhöht.

Unter „Lesen“ heißt es unter anderem: „Die Schüler können

  • Verstehensbarrieren identifizieren und sie zum Anlass eines textnahen Lesens nehmen.
  • Die Einsicht in die Vorläufigkeit ihrer Verstehensentwürfe zur kontinuierlichen Überarbeitung ihrer Hypothesen nutzen.“

Unter „Sprache reflektieren“ heißt es unter anderem: „Die Schüler können in geeigneten Nutzungszusammenhängen mit grammatischen Kategorien argumentieren.“

Sie merken es schon, ich kann mich mit dem Begriff „Kompetenz“ vor allem in seinem inflationären Gebrauch nicht anfreunden.

„Kompetenz“ ist nichts anderes als ein Hochglanz-, ja ein Reklame-Wort, ein Wort der Beschwörung und Autosuggestion.

Es stört mich auch, dass die Kompetenzenpädagogik noch keinerlei Bilanz vorgelegt hat, wiewohl sie geraume Zeit dafür gehabt hätte.

Bildungsstandards gibt es zum Beispiel seit 2003/2004 für die 4. Jahrgangsstufe der Grundschule. Aus der Sicht des Gymnasiums muss ich leider feststellen: Die Fertigkeiten und Kenntnisse der Grundschüler, die wir am Gymnasium aufnehmen, haben sich in den zwischenzeitlich fast zwei Grundschülergenerationen seit 2004 trotz der Kompetenzorientierung keineswegs verbessert – eher ist das Gegenteil der Fall.

Ich erinnere an die kleine Studie des Frankfurter Professors Hans Peter Klein. In der FAZ vom 14. Oktober 2010 berichtet er unter der Überschrift: “Nivellierung der Ansprüche“ von einem kleinen Experiment: Neuntklässler (!) können ohne Probleme zentrale Abiturarbeiten in Biologie bewältigen, wenn diese Aufgaben an Kompetenzen und an den Bildungsstandards orientiert sind. Bis auf vier von 27 Schülern haben alle die realen Abituraufgabe erfolgreich bewältigt, fünf mit Note drei, drei mit Note zwei und einer mit Note eins. Das zeigt doch, wie trivial sogar kompetenzorientierte Abituraufgaben geworden sind.

Ernsthaft: Manchmal hat man den Eindruck, dass die Pädagogik der Kompetenzen und Standards nur noch das Paraphrasieren vorhandener Texthäppchen erfordert.

Hans Peter Klein nimmt sich sodann – in der FAZ vom 3. Februar 2011 – unter der Überschrift: „Biologie ohne fachwissenschaftliche Inhalte“ das hessische Kerncurriculum Biologie vor und stellt fest: Darin gibt es nahezu keine fachwissenschaftlichen Inhalte mehr. Wörtlich: “Das Schulfach Biologie verabschiedet sich damit endgültig von der Biologie.“

Etwas ähnliches könnte ich über das Schulfach Geschichte sagen. Da haben wir einerseits einen um sich greifenden historischen Analphabetismus unter Jung und Alt. Man schaue sich nur einmal das defizitäre Wissen um die DDR an. (Siehe die Studie des „Forschungsverbundes SED-Staat“ der Freien Universität Berlin!) Gleichzeitig wird der Geschichtsunterricht jetzt auch auf Kompetenzen getrimmt wird – so zum Beispiel das von Geschichtslehrern und Historikern zu Recht heftig kritisierte hessische „Kerncurriculum“ Geschichte.  Ein Geschichtsunterricht ohne Geschichte scheint das zu werden.

Es gibt jedenfalls keine Mündigkeit ohne Inhalte. Schüler nur qua „Kompetenzen- und Methodentraining“ zu schulen, das ist Firlefanz. Wir brauchen wieder einen Primat der Inhalte vor den Methoden. Die blanke Forderung nach einer inhaltsleeren Vermittlung von Kompetenzen wäre wie der Vorschlag, ohne Zutaten zu kochen (Liessmann in „Theorie der Unbildung“, 2007)

Bezeichnend ist, wer die Einflüsterer solcher Kompetenzen-Pädagogik sind. Es sind dies die OECD, die Bertelmann-Stiftung, der Aktionsrat Bildung des Verbandes der Bay. Wirtschaft und das IFO – um nur einige zu nennen.

Die von der OECD – einer Wirtschaftsorganisation! – beschriebenen Kompetenzen geben im Grunde nichts anderes wieder, als die Arbeitsanforderungen in einem globalisierten Unternehmen.

Als Verstärker wirkt dabei die Bertelsmannstiftung, von der manche sagen, es sei ohnehin längst das – jeder demokratischen Kontrolle entzogene – heimliche Bildungsministerium Deutschlands.

(Vergessen wir nicht, dass Bertelsmann sich noch so als bildungsbeflissen „verkaufen“ (!) mag: Als Hauptanteilseigener gewisser Fernsehkanäle ist es zugleich Eigner der größten medialen Verblödungsprogramme.)

Zu den Hauptakteuren solcher Bildungspolitik gehören aber auch Leute vom IFO. Diese besitzen offenbar die prophetische Gabe errechnen zu können, wie viele Billionen Euro (2,8 !!!) die deutsche Volks­wirt­schaft binnen achtzig Jahren (bis 2090 !!!) zusätzlich erwirtschaften könnte, wenn alle Schüler auf ei­nen bestimmten PISA-Kompetenzwert  (420) getrimmt würden. (Ich glaube, die Pythia in Delphi war weniger berauscht.)

Aber zurück zum Grundsätzlichen: Ich habe den Eindruck, dass uns mit der Kompetenzenpädagogik eine operationalistische Verarmung von “Bildung” droht: Bildung ist das, was PISA misst oder die OECD auszuzählen vorgibt.

Die Testerei von Kompetenzen schafft sich damit die Wirklichkeit, die sie zu bewerten vorgibt. Die Methode definiert den Gegenstand, das Objekt der Messung. Die in messbare Standards übersetzte „Kompetenzen“ sind also Methodenartefakte.

Man nennt das die normative Wirkung der Empirie. Dabei räumen die PISA-Autoren selbst ein, dass die PISA-Tests „ein didaktisches und bildungstheoretisches Konzept mit sich führen, das normativ ist“. Ich glaube überhaupt: Die ganze PISA-Testerei ist zum Problem geworden, als dessen Diagnose sie sich ausgibt.

Ich könnte hier die Methode „Keuner“ zitieren. Bertolt Brecht  lässt in einer der „Geschichten des Herrn Keuner“ eben diesen Herrn Keuner fragen, was er tue, wenn er einen Menschen liebe. Keuner antwortet: „Ich mache einen Entwurf von ihm und sorge dafür, dass er ihm ähnlich wird.“ „Wer? Der Entwurf?“ wird bei Keuner nachgefragt, und Keuner antwortet: „Nein, der Mensch.“

Zurück zu PISA: Kritiker meinen sogar, PISA teste vor allem eine Kompetenz, nämlich die Kompetenz, einen PISA-Test auszufüllen. Womöglich haben unsere Schüler dann tatsächlich bessere PISA-Ergebnisse, womöglich gelten sie dann als kompetenter, ob sie deshalb nicht trotzdem dümmer sind, will ich hier nicht beantworten. Denn machen wir uns nichts vor: Die Schulen betreiben mittlerweile durchaus etwas, was man auf gut deutsch „Teaching to the Test“ benennt.

Abseits dieser grundsätzlichen Bedenken beschäftigt mich aber auch die Frage, ob die Kompetenzenpädagogik nicht ein Einfalltor für Einheitsschule werden könnte. So ist in der KMK-Broschüre 2010 mit dem Titel „Konzeption der KMK zur Nutzung der Bildungsstandards für die Unterrichtsentwicklung“ zu lesen: „In diesem Verständnis sollte sich Unterricht an der möglichst erfolgreichen Kompetenzentwicklung jeder Schülerin und jedes Schülers ausrichten und nicht daran, ob der Unterrichtsstoff vollständig durchgenommen wurde.“

Heißt das konkret: Der Unterricht hat sich im Geleitzug-Tempo am Langsamsten zu orientieren?

An dieser KMK-Broschüre von 2010 stört mich auch die totale In-Haftung-Nahme der Lehrer. Wörtlich: „Bildungsstandards können nur in dem Maße positive Wirkungen erzeugen, wie Lehrkräfte die Auffassung vom Lernen, die den Bildungsstandards zugrunde liegt, nachvollziehen.“

Aha! Wenn es nicht klappt und wenn die PISA/IGLU/VERA-Ergebnise nicht besser werden, sind die Lehrer schuld. Denn so die KMK wörtlich:

„Jede einzelne Unterrichtsstunde und jede Unterrichtseinheit muss sich daran messen lassen, inwieweit sie zur Weiterentwicklung inhaltsbezogener und allgemeiner Schülerkompetenzen beiträgt.“

Den nicht messbaren und übernützlichen Wert gymnasialer Bildung betonen!

Ich habe da und dort angedeutet, dass ich von der ganzen PISA-Hysterie nichts halte. Das heißt nicht, dass ich keine Bilanzen und keine empirische Bildungsforschung haben möchte.

Alles aber bitte mit Maß und Ziel! Denn Bildung ist erheblich mehr das Ergebnis eines PISA-Tests, PISA misst schließlich nur einen ganz kleinen Ausschnitt aus dem Lerngeschehen. Und Bildung ist mehr als Anwendungswissen.

Gerade gymnasiale Schulpolitik muss den Grundsatz verteidigen, dass Bildung einen übernützlichen Wert hat. Hier gilt, was das Bildungspapier der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vom November 2000 festhielt. Es trägt den Titel „Tempi – Bildung im Zeitalter der Beschleunigung“. Darin wird Kritik geübt an einem „Totalitarismus neuen Typs“, nämlich dem „subjektlosen Funktionalismus“, der auch die Bildung erobere.

In Nietzsches Worten hieße das: Bildung kann keine Bildung sein „am Pflock des Augenblicks“. Dementsprechend rechnet er es 1872 in seinen Vorträgen „Über die Zukunft der Bildungsanstalten“ zu den beliebtesten nationalökonomischen Dogmen, den Nutzen, ja den möglichst großen Geldgewinn als Zweck der Bildung auszugeben. Wörtlich: „Dem Menschen wird nur soviel Kultur gestattet, als im Interesse des Erwerbs ist.“

Oder in den Worten des damaligen Nürnberger Gymnasialdirektors Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Nicht jeder „nützliche Stoff“ formt die Seele, und Bildung ist die Aneignung von Welt jenseits des Nutzens ökonomischer Praxis.

Deshalb muss es gerade im Gymnasium (wo sonst?) um einen Grundbestand an Literaturkenntnis gehen, im Fach Musik um einen Grundbestand an Werkkenntnis. Und zwar deshalb, weil kanonisches Wissen eine Kommunikationsgrundlage ist und weil ein zu schmales Wissen (ein Wissen unter aller „Kanone“) anspruchsvolle Kommunikation erst gar nicht entstehen ließe.

7.

Bildung braucht Zeit!

Das Volk der Dichter, Denker und Pädagogen droht bildungspolitisch außer in die Falle des blanken Verwertungsdenkens, auch in die Falle eines Beschleunigungs- und Frühförderwahns zu tappen – des Wahns nämlich, alle sog. Bildung in kürzester Zeit vermitteln und damit möglichst schon im Mutterleib starten zu sollen. „Fötagogik“ qua „Mozart schon im Mutterleib“ scheint angesagt, um kurz danach in FasTrackKids-Kindergärten einzumünden (Fast-Track = Überholspur.)

Angesichts solcher Verirrungen ist man versucht, das Ganze kabarettistisch zu extrapolieren und zu fordern: Verkürzt doch endlich die Schwangerschaft von S9 auf S6! Die Pränatalmedizin ist längst so weit. Dann kommen die Kinder schneller auf die Karriereleiter und die Mütter schneller auf diese zurück.

Ich will nicht groß über G8 / G9 reden. Hierzu sind meine Positionen bekannt: Die Einführung des G8

  • war und bleibt ein Fehler;
  • sie hat irreparable Schäden angerichtet;
  • war und bleibt ein Symptom typisch deutscher Selbstvergessenheit und Selbstaufgabe (die wir auch mit der Implementation des Bachelor-/Master-Systems an den Universitäten nachweisen können.)

Ich will die Debatte um G8 / G9 an dieser Stelle ein wenig philosophisch / anthropologisch / psychologisch ummanteln.

Über all dem bildungspolitischen Beschleunigungswahn thront nämlich ein Gott namens Velozifer, der Gott der rasenden Geschwindigkeit: Velozifer bzw. „veloziferisch“ – es war Goethe, der dieses Kunstwort prägte: Dabei steht „velocitas“ für Eile und „lucifer“ für den Gott des Lichts bzw. den gefallen Erzengel.

Gewiss soll der Mensch etwas machen aus seiner Zeit und sie keineswegs vergeuden. Wahrscheinlich hätte es den Aufstieg Europas nicht gegeben ohne diese Haltung, dessen besonders markantes Ergebnis der fleißige deutsche Michel ist.

Aber muss man ständig über ein Zuwenig an Zeit oder über Zeitverschwendung jammern? Schließlich haben Menschen heute doch immer mehr Zeit:

  • Die Lebenserwartung steigt in der westlichen Welt unvermindert an.
  • Die verbindliche Arbeitszeit hat sich in einem Jahrhundert zugunsten der „Frei“-Zeit fast halbiert.
  • Die für einen Produktionsvorgang notwendige Zeit hat sich aufgrund neuer Werkzeuge und Technologien immer mehr verkürzt.
  • Die Informationsbeschaffung hat sich dramatisch beschleunigt.
  • Wir haben pro Familie immer weniger Kinder, um die man sich kümmern muss.
  • Reisen und Transporte dauern nur noch einen Bruchteil der früheren Reisezeit.

Wir haben damit einen Gewinn an Zeit, und deshalb hätten wir eigentlich immer mehr Zeit für Kulturelles und für Bildung, für Muse und für Muße.

 

Jetzt aber das Paradoxe: Wir haben immer mehr Zeit, aber die Zeit wird uns – hausgemacht –  immer knapper. Wir sind, ob jung oder alt, zu Simultanten geworden (nicht zu verwechseln mit Simulanten) – Simultanten, die alles Mögliche simultan tun wollen, um Zeit zu gewinnen und um ja nichts zu versäumen. Die Folge ist eine hochgradige Zeitneurose in Form eines pathogenen „multi-tasking“.

Wir haben uns einem rasenden Stillstand ausgeliefert und damit den Zustand einer Stagnation durch vermeintliche Innovation erreicht. Joseph Weizenbaum spricht von „Stagnovation“. Damit sind wir bei einem Zustand angekommen, in dem – wie beim Herzflimmern – das hektische Oszillieren von einem totalen Stillstand nicht mehr zu unterscheiden ist.

Es ist auch falsch, Zeit nur physikalisch als „Leistung ist gleich Arbeit je Zeiteinheit“ zu betrachten. Ebenso falsch ist es, Zeit nur ökonomisch nach dem Grundsatz „time is money“ zu betrachten.

Es geht um etwas anderes: Zeit haben heißt Weile haben. Eine solche Weile kann kurz sein, als Weilchen ist sie etwas durchaus Nettes, und sie kann lang sein. Als lange Weile (Langeweile) kennen wir sie in zwei Ausprägungen: als niedere und als hohe Langeweile.

Als niedere Langeweile ist sie oft ätzend, macht sie aggressiv, vermittelt das Gefühl der Verlorenheit, „vermittelt“ nicht selten ein Sinnvakuum. In der Folge kann sich eine schmerzliche Selbstbezogenheit bis hin zur Hypochondrie einstellen. Es kann sich daraus auch ein zielloser Konsumismus ergeben. Folge: „Wir amüsieren uns zu Tode“, wie Neil Postman in seinem Buch gleichen Titels nachwies.

Es gibt daneben die „hohe“ Langeweile, die den Menschen erst zum Menschen macht. Diese Langeweile brauchen wir und unsere Kinder.

Hohe Langeweile kann eine kreative Kraft sein, weil das Neue und das Wesentliche damit eine Chance erhalten. Deswegen braucht der Mensch, gerade auch der junge, neben der „vita activa“ die „vita contemplativa“, das Zurücklehnen, die Faulheit; das hat etwas enorm Konstruktives. Viele Erfindungen der Menschheit gäbe es nicht, wenn die Menschen aus Faulheit nicht Erfindungen gemacht hätten, die ihnen die Arbeit erleichtern und die das Faulsein ermöglichen; man denke an Roboter oder Haushaltsautomaten.

Nennen wir das Ausleben einer höheren Langeweile Muße. Solche Muße ist schöpferische Gestaltung freier Zeit. Solche „hohe“ lange Weile stand womöglich an der Wiege der Menschheit.

  • Laut Kierkegaard schufen die Götter den Menschen, weil sie sich langweilten und weil sie sich belustigen wollten. Und Adam bekam aus seiner Rippe Eva geschaffen, weil er sich sonst gelangweilt hätte.
  • Oder evolutionsanthropologisch: Die Fähigkeit zur hohen langen Weile erst macht den Menschen zum Menschen. Bereits Voltaire wusste das: „Wenn sich Affen langweilen würden, wären sie Menschen.“

Natürlich ist bekannt, dass die Trägheit des Herzens eine der sieben Todsünden ist, dass laut Volksmund Müßiggang aller Laster Anfang ist. Dennoch sei eine Lanze gebrochen für Müßiggang, ja für Faulheit. Sie ist oft ein letztes Ich-Fenster, aus dem wir – noch unbeeindruckt vom „chillen“ und „entertainment“ – in die Welt schauen können. Deshalb sollten die Menschen gelegentlich zur Notbremse greifen und ihr Da-Sein ent-schleunigen, damit es kein bloßes Bis-Sein, kein bloßes Schielen auf Fristen und Termine wird

Jung und Alt brauchen Entschleunigungsinseln: nicht zum Rumhängen, Rumlungern – sondern zum Nachdenken, Lesen, Erzählen, Erzählen lassen. Damit streckt man die Zeit. Und wer es denn als Nihilist oder Existentialist so will, dem sei gesagt: Erst auf dem Gipfel der Langeweile erfährt man den Sinn des Nichts.

Das ist kein Plädoyer, Kinder faul sein und sie sich langweilen zu lassen. Nein, das ist ein Plädoyer für ein Recht auf lange Weile – allerdings nur für den, der vorher fleißig war.  Dann ist Müßiggang Trägheit mit Sinn. Kurz: Faulheit ist das Privileg der Fleißigen. Auf Maß und Mitte kommt es also an: Nur zu „powern“ geht nicht, sonst ist man bald ausgebrannt. Nur zu „relaxen“ geht ebenfalls nicht, sonst verblödet man.

„Die Kunst sich selbst auszuhalten“- das ist nicht nur der Titel eines sehr lesenswerten Bändchens des Münchner Philosophieprofessors und Jesuiten Michael Bordt. Verstehen wir diesen Titel vielmehr als Erziehungs- und Bildungsauftrag! Damit unsere jungen Leute nicht mit Ödön von Horváth sagen müssen: „Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme so selten dazu.“

Für Erzieher in Schule und Elternhaus heißt das: Manchmal muss man zur Notbremse der Entschleunigung greifen.

Zwei Gedanken zum Schluss

Erster Gedanke:

Anstelle der üblichen Reform-Lyrik brauchen wir eine rationale und realistische Schulpolitik. Eine solche Politik sollte eine gesunde Skepsis pflegen gegen den blinden Optimismus und gegen den Dogmatismus pädagogischer Scharlatane.

Religionssoziologisch mutet diese Art von bildungspolitischer Debatte, wie wir sie haben, an wie ein säkularisiertes Credo, wie ein Religionsersatz: Was der Schöpfer am Jüngsten Tag vollziehen kann, nämlich eine absolute Gerechtigkeit, das will der Reformer qua „Bildung“ schon im Diesseits installieren.

Fällt Ihnen in diesem Zusammenhang etwas auf? Wenn es mit der Jugend frühere schief lief, dann sagte man: Da hilft nur noch beten. Heute sagt man: Da hilft nur noch eine Bildungsreform.

Rational ist das nicht mehr: Es ist dies der „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ (Hermann Lübbe), wie ja laut Lübbe Moralismus überhaupt der Versuch ist, Wissenschaft und Empirie durch Moralisieren unschädlich zu machen.

Wie gesagt: Anstelle der üblichen, quasi-religiösen Reform-Lyrik brauchen wir vor allem eine rationale und realistische Schulpolitik. Solche Politik muss werben

  • für die Bereitschaft, die Unterschiedlichkeit der Menschen zu akzeptieren;
  • für die Überzeugung, dass Gleiches gleich und Unterschiedliches unterschiedlich behandelt werden muss.

…. Das müsste sich auch widerspiegeln in der Schulpolitik durch eine differenzierende Gliederung …… wie auch in der Würdigung der Arbeit der Lehrkräfte. Die implizit mit der geplanten Mehrbelastung einhergehende Entwürdigung der niedersächsischen Gymnasiallehrkräfte führt zu Illoyalitäten und schwächt damit das gesamte Bildungswesen. (Jaspers-Zitat: Es ist das Schicksal eines Volkes, welche Lehrer es hervorbringt und wie es seine Lehrer achtet.)

Zweiter Gedanke:

Das Gymnasium ist das Erfolgsmodell des deutschen Bildungswesens schlechthin, und es muss es bleiben. Es kann es aber nur dann bleiben, wenn es nicht an seiner Beliebtheit hypertrophiert

Wenn ich das so sage, dann heißt das nicht, dass das Gymnasium Grund hätte, auf andere Schulformen herabzublicken! Mitnichten, denn der Mensch beginnt nicht mit dem Abitur.

Umgekehrt sollte niemand dem Gymnasium den Anspruch neiden, dass keine andere Schulform eine so prägende Bildung leisten kann wie das Gymnasium! Schließlich umfasst das Gymnasium drei Entwicklungsstadien/ Lebensalter:

  • das späte Kindheitsalter,
  • die Früh- und Hochpubertät mit ihren Verwerfungen
  • und schließlich die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter.

Dies ist eine einmalige Chance und der besondere Charme, nicht nur eine spätere Leistungs- und Verantwortungselite heranzubilden, sondern junge Menschen auch nachhaltig kulturell und ethisch zu prägen.

Machen wir also Schluss mit der typisch deutschen Selbstverleugnung! Machen wir Schluss mit dem Glauben, Schule in Deutschland sei um so zukunftsfähiger, je mehr sie sich an Finnland oder Japan oder Südkorea oder Kanada orientiert!

Nein, all die genannten Länder wollten, sie hätten eine Schulform, die so anspruchsvoll, so sturm-erprobt als Bollwerk gegen abgehobene Visionen und so erfolgreich ist wie das Zugpferd des deutschen Bildungswesens: das Gymnasium!