Rede des niedersächsischen Kultusministers Grant Hendrik Tonne
bei der Jahrestagung des Verbandes der Elternräte der Gymnasien Niedersachsen e.V., Hameln, 20.10.2018

– Es gilt das gesprochene Wort –

Thema:
Das Gymnasium zwischen Tradition und Zukunftsorientierung
Sehr geehrte Frau Wiedenroth, sehr geehrter Herr Dr. Jeschke,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Griese,
sehr geehrter Herr Dr. Glaubitz, sehr geehrte Eltern!

Für Ihre Einladung zur heutigen Jahrestagung bedanke ich mich herzlich. Zum 70jährigen Verbandsjubiläum gratuliere ich herzlich und wünsche Ihnen alles Gute für Ihre zukünftige Arbeit. Zuerst will ich mich für bei Ihnen für Ihr Engagement bedanken. Wenn wir Kinder und Jugendliche gemeinsam gut fördern wollen, brauchen wir engagierte Eltern. Das gilt sowohl für die Elternvertretungen der einzelnen Schulen, der Landkreise und des Landes als auch für Ihren Verband. Ihre Impulse tragen dazu bei, die Elternperspektive in der bildungs- politischen Debatte zu stärken, Argumente zu schärfen und zu guten Entscheidungen zu kommen.
Meine Ausführungen stehen unter dem Thema „Das Gymnasium zwischen Tradition und Zukunftsorientierung“. Dazu gehören für mich der Rückblick und der Ausblick auf die Entwicklung des Gymnasiums und, selbst- verständlich, lieber Herr Dr. Jeschke, werde

ich auf die von Ihnen angesprochenen Themen eingehen. Schon jetzt kann ich Ihnen versichern: Von einem „Abitur light“ ist das niedersächsische Gymnasium weit entfernt!
(Rückblick – Veränderungen im niedersächsischen Gymnasium)
Anrede,
werfen wir einen Blick zurück: Im Jahr 1964 verkündete Georg Picht die drohende Bildungskatastrophe und forderte eine größere Bildungsbeteiligung. Picht zielte direkt auf die Erhöhung der Zahl gymnasialer Schulabsolventinnen und -absolventen. In der Folge stieg die Zahl der Neugründungen von Gymnasien deutlich an. Gab es 1965 noch 194 öffentliche Gymnasien in Niedersachsen, sind es aktuell 259. Noch deutlicher wird die Veränderung beim Blick auf Schülerzahlen und Übergangsquoten: 101.000 Schülerinnen und Schülern im Jahr

1965 stehen 221.000 im vergangenen Schuljahr gegenüber. Der Anteil des Gymnasiums an der Gesamtschülerschaft beträgt inzwischen 43% gegenüber 15% im Jahr 1965. Dabei ist übrigens bemerkens- wert, dass sich nach der Abschaffung der Schullaufbahnempfehlung 2015 die Über- gangsquote nicht wesentlich verändert hat.
Diese wenigen empirische Befunde verdeutlichen in beeindruckender Weise, dass das niedersächsische Gymnasium sich in den letzten 50 Jahren deutlich gewandelt hat.
Anrede,
lassen Sie mich Entwicklungsstationen auf dem Weg vom Ende der 60er Jahre bis ins Jahr 2018 eingehen, denn es gibt in diesem Zeitraum einige bildungspolitische Rich- tungsentscheidungen, die das Gymnasium wesentlich verändert haben.

(Die Bonner KMK-Vereinbarung vom 7.7.1972)
Die Bonner Vereinbarung der KMK zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe vom 7. Juli 1972 gilt als der bisher tiefste Eingriff in das Gymnasium. Die damals getroffenen Entscheidungen wirken bis heute.
Im Wesentlichen brachte die Reform folgende Neuerungen: Die bisherigen Fächer wurden drei Aufgabenfeldern zugeordnet, in denen eine Grundausbildung stattfinden sollte; darüber hinaus wurden individuelle Schwerpunkte in zwei Fachgebieten gesetzt, in denen eine wissenschaftspropädeutische Vertiefung erfolgen sollte.
An die Stelle der Neben- und Hauptfächer trat eine Gleichwertigkeit der Fächer. Das bedeutete, dass prinzipiell jedem Fach eine wissenschaftspropädeutische Funktion zukam. Damit wurden die bisherigen

Nebenfächer deutlich aufgewertet. Das Prinzip der Wissenschaftspropädeutik in allen Fächern wurde somit zum zentralen Merkmal des Lernens in der gymnasialen Oberstufe.
Die Jahrgangsklasse wurde zugunsten eines Kurssystems aufgegeben, das in Grund- und Leistungskurse differenziert. Grund- und Leistungskurse sollten dabei verschiedene Funktionen übernehmen: Mit diesen zwei Kurstypen wurde eine Differenz in Grundbildung und vertiefte Bildung eingeführt. Angestrebtes Ziel dieser Gliederung war es, allen Schülerinnen und Schülern grundlegende wissenschaftliche Verfahrens- und Erkenntnisweisen systema- tisierend und problematisierend zu vermitteln, sie auf staatsbürgerliches Handeln vorzubereiten und zu allgemeiner Kommunikation zu befähigen.

(Die Einheitlichen Prüfungsanforderungen 1979/1988)
Aus den Hochschulen wurde bald Kritik laut, die Reform von 1972 führe zu einer Beliebigkeit der Fächer im Abitur und gefährde dadurch die Vergleichbarkeit der Abschlüsse der Länder. Als Antwort entwickelte die KMK die „Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abitur- prüfung“ (EPA). Diese Standards sollten die Gleichwertigkeit schulischer Ausbildung sichern, die Schulabschlüsse vergleichbar machen, die Qualität der Allgemeinen Hochschulreife sichern sowie die allgemeine Studierfähigkeit der SchülerInnen und ihren Übergang in eine berufliche Ausbildung gewährleisten. 1979 wurden die EPA verbindlich eingeführt und normierten fortan bundesweit das Abitur als Zugangs- berechtigung für die Hochschulen. 1988 wurden für die Gesamtwertung im Abitur strengere Belegpflichten für die Fächer

Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache verankert (KMK 1988). Die Gleichwertigkeit der Fächer als ein Prinzip der Neuen Gymnasialen Oberstufe wurde damit wieder eingeschränkt.
Die 1988 initiierte stärkere Normierung hat sich fortgesetzt. Die von der KMK einge- setzte Expertenkommission löste eine Entwicklung in den Ländern aus, die nach 2000 – flankiert von den schockartig wirkenden PISA-Ergebnissen – dazu geführt hat, dass die Länder in vier wesentlichen Punkten übereinstimmten:
1. in der Verkürzung der Dauer der Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Schuljahre,
2. in der Ausweitung der Abiturprüfung auf fünf Prüfungskomponenten,
3.in der Einführung des „Zentralabiturs“ mit landesweit einheitlichen Aufgabenstellungen,

4. in der Verschiebung der Balance zwischen Individualisierung und Obligatorik zugunsten verbindlicher Verpflichtungen.
Niedersachsen hat diese Neuausrichtung vor allem mit der Schulgesetzänderung von 2003 vollzogen. Die Orientierungsstufe wurde zum 1.8.2004 aufgelöst, das neue „G 8“ wurde unter dem Beifall insbesondere der Hochschulen und der Wirtschafts- verbände eingeführt. Aus damaliger Sicht waren im internationalen Vergleich die deutschen Abiturientinnen und Abiturienten zu alt und kamen entsprechend spät in das Erwerbsleben.
Wie wir heute wissen, bildete das „G8“ ein kurzlebiges Intermezzo. Die Debatte setzte sich seit der Einführung fort und endete auch dann nicht, als der erste „G8“-Jahrgang im Jahr 2011 die Abiturprüfung ablegte und in diesem „Doppelabitur“ keine schlechteren Ergebnisse erzielte als der letzte „G9“-

Jahrgang (der ja eigentlich ein „G7“- Jahrgang war). Verdichtete Lernzeit, umfangreiche Curricula, hohe Schülerpflicht- stundenzahlen im Sekundarbereich, starke Belastungen durch Klassenarbeiten und Klausuren wurden regelmäßig beklagt. Darüber hinaus wurden immer mehr Stimmen aus den Hochschulen und der Wirtschaft laut, die die mangelnde Reife von Abiturientinnen und Abiturienten beklagten.
Die neu gewählte niedersächsische Landes- regierung hat deshalb im Juni 2013 mit dem Dialogforum „Gymnasien gemeinsam stärken“ einen breit angelegten Diskurs über die Dauer der Schulzeit bis zum Abitur begonnen. Am 19.3.2014 nwürfe die Absicht der Landesregierung verkündet, mit dem Beginn des Schuljahres 2015/2016 zum Abitur nach neun Jahren an allen Schulformen mit gymnasialer Oberstufe zurückzukehren. Einbezogen wurden die Jahrgänge 5 bis 8. Der erste „G9“-Jahrgang

wird im Schuljahr 2020/21 das Abitur nach neun Jahren ablegen können.
Nach 2000, verstärkt am Ende des Jahrzehnts, rückte ein neues Thema zunehmend in den Fokus der bildungs- politischen Diskussion. Die Vergleichbarkeit des Abiturs in den verschiedenen Bundesländern wurde zunehmend skeptischer beurteilt. Die KMK reagierte zunächst mit einer stärkeren Standardi- sierung: Die nationalen Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss wurden entwickelt, im Jahr 2012 wurden dann auch die ersten Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife von der KMK beschlossen. Zusätzlich wurde festgelegt, einen Aufgabenpool für die standard- basierten Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch einzurichten. Unter der Leitung des IQB, des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, werden von Experten, die von den Ländern entsandt sind, Abiturprüfungsaufgaben

entwickelt. Die Länder können sich seit 2017 aus diesem Pool bedienen; erklärtes Ziel ist, dass möglichst viele Länder gemeinsam Aufgaben entnehmen.
Anrede,
Sie wissen alle, dass die aktuelle Umstellung auf das neue „G9“ in einer Phase geschieht, in der der Arbeitsmarkt für Lehrkräfte in ganz Deutschland sehr angespannt ist. Die Sicherstellung der Unterrichtsversorgung ist aktuell die dringendste Herausforderung, der wir uns im Schulbereich zu stellen haben. Auch wenn sich abzeichnet, dass es uns mit den Einstellungen von Lehrkräften gelungen ist, im laufenden Schuljahr eine Stabilisierung der landesweit durchschnittlichen Unterrichts-versorgung an den öffentlichen allgemein bildenden Schulen bei vermutlich rund 99% zu erreichen, ist dieser Wert nicht zufriedenstellend.

Deshalb werden wir unsere Anstrengungen fortsetzen. Wir werden auch beim nächsten Einstellungstermin wieder mehr Ein- stellungsmöglichkeiten anbieten als voraus- sichtlich Lehrkräfte dauerhaft aus dem Dienst ausscheiden werden. Damit geben wir eine De-facto-Einstellungsgarantie für alle Lehrkräfte, die in Niedersachsen ausgebildet werden.
Weil mehr Bewerberinnen und Bewerber mit gymnasialem Lehramt zur Verfügung stehen als im Bereich der Lehrämter für die Grund-, Haupt- und Realschulen, verlagern wir nicht besetzbare Stellen aus diesem Bereich an die Gymnasien mit der Maßgabe, bis 2020 Gymnasiallehrkräfte an diese Schulformen abzuordnen. Damit stärken wir die Unterrichtsversorgung an den nicht- gymnasialen Schulformen und treffen gleichzeitig Vorsorge für den zusätzlichen Jahrgang am Gymnasium im Schuljahr 2020/2021. Zu dieser Vorsorge gehört auch die Erhöhung der Ausbildungskapazitäten an

den Studienseminaren für das gymnasiale Lehramt, um möglichst allen Absolventinnen und Absolventen der Hochschulen ein Einstellungsangebot zu machen.
Mir ist bewusst, dass das Instrument der Abordnungen ein schwieriges Thema ist. Sie wissen, mein Ziel ist es, die Zahl der Abordnungen und damit die Belastungen für Lehrkräfte und Schulleitungen zu reduzieren. Zurzeit ist die Situation bei weitem noch nicht befriedigend. Deshalb prüfen wir zurzeit Möglichkeiten, um z. B. Anreize für über- hälftige Abordnungen zu schaffen und damit die Zahl von geringen Teilabordnungen zu verringern.
Der Lehrkräftemangel ist kein nieder- sächsisches und auch kein kurzfristiges Übergangsphänomen. Deshalb werden zurzeit weitere Maßnahmen geprüft und entwickelt, die ich hier nur stichwortartig nennen will: eine bessere berufsbegleitende Qualifizierung von Quereinsteigerinnen und

Quereinsteigern, verbesserte Möglichkeiten für Teilzeiterhöhungen, das Hinausschieben des Ruhestandes und die Beschäftigung pensionierter Lehrkräfte zu günstigeren Bedingungen. eine Imagekampagne für den Beruf der Lehrkraft sowie eine verbesserte Bedarfsplanung für die Ausbildung von Lehrkräften gemeinsam mit dem MWK.
Ziel aller Bemühungen ist und bleibt, die Unterrichtsqualität an unseren Schulen in Niedersachsen zu sichern. Für das Gymnasium bedeutet dies, alles daran zu setzen, die Qualität gymnasialer Bildung zu sichern und auszubauen.
(Was macht gymnasiale Bildung aus?)
Aber: Was macht gymnasiale Bildung denn eigentlich aus? Über die Ziele des gymnasialen Bildungsgangs wurde und wird viel debattiert. Einigkeit herrscht nur in wenigen Bereichen, die je unterschiedlich gedeutet und gefüllt werden. Über die ganze

Reformgeschichte des Gymnasiums hinweg wurde aber an der Trias von vertiefter Allgemeinbildung,Wissenschaftspropädeutik und Studierfähigkeit festgehalten. § 11 des NSchG formuliert unter Bezug auf diese drei zentralen Begriffe den spezifischen Bildungsauftrag des Gymnasiums.
 Wissenschaftspropädeutik Grundbildung wird in der gymnasialen Oberstufe als eine wissenschaftspropädeu- tische verstanden: Ihr Ziel ist, Einsicht in die Struktur und Methode einzelwissenschaft- licher Erkenntnis zu vermitteln sowie die Reflexion theoretischer Voraussetzungen und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Versprachlichung von Erkenntnis zu erzeugen. Grundbildung ist keine Spezial- bildung, vielmehr wird durch das Prinzip des exemplarischen Lernens Datenwissen in Strukturwissen überführt.

 Studierfähigkeit
Die Studierfähigkeit soll inhaltlich durch eine bestimmte Grundbildung gesichert werden und formal durch Lehr- und Lernformen, die auf die Tätigkeiten und Lernprozesse im Studium vorbereiten.
Die für die Studierfähigkeit erforderliche Grundbildung soll durch einen festen Kanon von Pflichtfächern gewährleistet werden, nämlich die ‚universellen Sprachen’ Deutsch, Fremdsprache und Mathematik. Die KMK hat die Beleg- und Einbringungspflichten in den drei Fächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprache für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife sukzessive erhöht.
Der formale Aspekt der Studierfähigkeit besteht in Fähigkeiten und Fertigkeiten, die nicht fachlich gebunden sind, sondern sich auf das Lernen als Prozess beziehen. Die Bildungsforschung verwendet den Begriff der Kompetenz. Kompetenzen sind nach Auffassung der KMK nicht allein im Rahmen

der Schulfächer zu erlernen, vielmehr sind fachübergreifende Themen und fächerver- bindender Unterricht innerhalb der Fächer und in eigenen Lernaktivitäten unentbehrlich.
– VertiefteAllgemeinbildung
An die Stelle der früheren Vorstellung einer allumfassenden Allgemeinbildung ist das Konzept des exemplarischen Lernens getreten, mit dem in der gymnasialen Oberstufe die vertiefte Allgemeinbildung erlangt werden soll. In der Spezialisierung werden allgemeine Fähigkeiten entwickelt und geübt, beispielsweise allgemeine und fachspezifische Arbeitstechniken, metho- disches Vorgehen, logisches Denken, fachspezifische Perspektiven und Gütekriterien, Reflexion von Grundbegriffen und Strukturen. In der exemplarischen Durchdringung eines Besonderen muss das Allgemeine daran bewusst gemacht, herausgearbeitet und kommuniziert werden.

Deshalb bedarf das Lernen in der Spezialisierung der Reflexion, denn nur so wird diese Spezialisierung zu allgemeiner Bildung.
(Sind wir auf dem Weg zum Abitur light?)
Anrede,
ich habe schon zu Beginn meiner Ausführungen darauf hingewiesen, dass in Niedersachsen keine Rede von einem „Abitur light“ sein kann. Ich will das an unseren Entscheidungen seit dem Beschluss zur Rückkehr zum „G9“ beispielhaft verdeutlichen:
 Die Gesamtzahl der Unterrichtsstunden haben wir gegenüber dem „G8“ deutlich erhöht: von 265 Stunden auf mindestens 273, bei der Nutzung der Stundentafel 2 im Sekundarbereich I sind es sogar 279 Stunden.

 Wir haben die Fächer Deutsch und Mathematik mit je zwei zusätzlichen Jahreswochenstunden gestärkt.
 Im Regelfall lernen Schülerinnen und Schüler sechs Jahre lang eine zweite Pflichtfremdsprache. Von der Aus- nahme, nach Beschluss des Schul- vorstands ein Wahlpflichtangebot einzurichten, das Schülerinnen und
Schülern ermöglicht, die Pflichtfremdsprache nach Lernjahren – die KMK mindestens vier! – zugunsten anderer Fächer abzuwählen, machen zurzeit 20% der Gymnasien Gebrauch. Dabei sei ein Hinweis erlaubt: In keinem Bundesland außer in Hessen ist der Stundenumfang für die zweite Fremdsprache so groß wie in Niedersachsen.
 Es ist richtig, dass die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, sich schriftlich klar und korrekt ausdrücken
zweite fünf fordert

zu können, gestärkt werden muss. Die Zahl der schriftlich zu erbringenden Leistungen, also Klassenarbeiten und Klausuren, ist, bedingt durch das zusätzliche Lernjahr gegenüber dem früheren „G 8“ angestiegen. Die entscheidende Förderung in diesem Bereich erhalten die Schülerinnen und Schüler durch einen motivierenden, ihre Fähigkeiten fordernden Unterricht.
 Die mündliche Kommunikation in den modernen Fremdsprachen wird durch die obligatorischen Sprechprüfungen in jedem Doppeljahrgang gestärkt. In der Fremdsprache nicht nur schreiben, sondern auch dem jeweiligen Anforderungsniveau entsprechend situationsgerecht kommunizieren zu können, sollte selbstverständlich sein.
 Die niedersächsische Abiturprüfung ist anspruchsvoll. Wir fordern Leistungen in fünf Prüfungsfächern, davon sind vier schriftliche Fächer mit landesweit

einheitlichen Aufgabenstellungen, also im „Zentralabitur“. Drei Prüfungen finden auf erhöhtem Anforderungsniveau statt. Zum Vergleich: Bayern kennt drei Klausuren und zwei mündliche Prüfungen.
Schon seit 2014 werden dabei Prüfungsaufgaben im Rahmen des länderübergreifenden Abiturs gemein- sam mit sechs weiteren Bundesländern entwickelt und eingesetzt. Seit 2017 nutzen alle Bundesländer, selbstver- ständlich auch Niedersachsen, den KMK-Aufgabenpool in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch.
Für mich ist ganz klar: wir stellen hohe Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler, die in Niedersachsen die allgemeine Hochschulreife erwerben. Und das soll auch so bleiben, weil anspruchsvolle gymnasiale Bildung Schülerinnen und Schülern die beste

Möglichkeit bietet, den weiteren Berufsweg, sei es in der dualen Ausbildung oder an den Hochschulen, erfolgreich zu meistern.
(Aktuelle Herausforderungen und Fragestellungen für das Gymnasium)
Das Gymnasium ist die bei Eltern beliebteste Schulform. Mehr als 40% Übergangsquote von der Grundschule in die weiterführende Schule sprechen für sich. Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass das Gymnasium in Niedersachsen gut aufgestellt ist, müssen wir uns den aktuellen Herausforderungen stellen. Das sind nicht wenige. Ich will auf die aus meiner Sicht besonders wichtigen zum Abschluss eingehen:
1. Wir haben die Aufgabe, die Unterrichts- qualität zu sichern und auszubauen. Alle Schulleistungsstudien der letzten Jahre weisen darauf hin, dass wir die basalen Kompetenzen, also insbesondere die Fächer Deutsch, Mathematik und

Fremdsprache stärken müssen. Darüber hinaus sind unsere Anstrengungen insbesondere im MINT- Bereich weiter zu verstärken. Gute Ansätze wie der Austausch mit den Hochschulen im Fach Mathematik, den wir seit einigen Jahren intensiv pflegen, müssen ausgebaut werden, um die Anschlussfähigkeit für das Studium zu verbessern.
2. Das Zukunftsthema „Bildung in der digitalisierten Gesellschaft“ muss intensiver in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Wir müssen die digitalen Kompetenzen in den Schulen verbessern. Dazu gehören die Ausstattung, die Frage der Nutzung digitaler Lernwerkzeuge, digitale Schulbücher, vor allem aber auch die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. Wir müssen das Schulfach Informatik

stärken. Die Einführung als Pflichtfach ist nach meiner Auffassung erforderlich. Dazu müssen aber insbesondere mehr Lehrkräfte ausgebildet werden.
In Niedersachsen soll das Thema „Digitalisierung“ / Lernen mit digitalen Medien in den Schulen von Menschen begleitet werden und nicht von Technik getrieben sein. Es geht darum, die Menschen, also vor allem die Lehrkräfte, Schulleitungen und die Schülerinnen und Schüler mitzu-nehmen. Gleichwohl benötigen sie, um mit digitalen Medien vor Ort zu lernen und zu arbeiten, verlässliche technische Voraussetzungen. Wir wollen nun mit dem „Masterplan Digitalisierung“, der kürzlich vorgestellt wurde, und dem DigitalPakt des Bundes mit den Ländern dafür sorgen, dass diese Voraus- setzungen mittelfristig geschaffen werden.

Digitalisierung darf keine Frage der T echnik bleiben. Sie bringt vielmehr neue Rahmenbedingungen für didaktisches Handeln hervor. Digita- lisierung und Pädagogik sind zusammenzubringen, damit Lernen ganzheitlich erfolgen kann. Inhaltlich und didaktisch ist das Ziel der allgemeinen und beruflichen Bildung der Erwerb von Handlungskompetenz in realen Handlungssituationen.
3. Inklusion ist eine gesamtgesell- schaftliche Aufgabe und in den letzten Jahren insbesondere in der Schule umstritten. Die niedersächsischen Schulen sind nach dem Schulgesetz inklusiv. Alle Schulformen haben hier eine gewaltige Aufgabe, weil damit wirklich ein Paradigmenwechsel verbunden ist. Mit 0,48% Anteil an inklusiv beschulten Schülerinnen und

Schülern ist die Beteiligung der Schulform Gymnasium mit Abstand am kleinsten. Hauptschulen, Oberschulen und Gesamtschulen bewegen sich in einem Bereich von 12,7% in der Hauptschule und 6 – 7% in der Ober- schule und der Integrierten Gesamt- schule. Ich kenne hervorragende Beispiele inklusiver Arbeit am Gymnasium, z. B. am Otto-Hahn- Gymnasium in Springe oder auch in Wunstorf und Bad Harzburg. Aber wir müssen auch sagen: Hier ist noch viel zu tun. Ich bin im Übrigen davon überzeugt, dass insbesondere die Chancen gemeinsamen Lebens in der Schule höhere Beachtung finden müssen als die zurzeit überwiegende Skepsis.
4. Wir müssen die Berufsorientierung stärken. Die sich rasant verändernde Arbeitswelt, der Fachkräftemangel und

eine veränderte Schülerschaft, die eben nicht mehr zu 90% das Hochschulstudium beginnt, sind nur zwei auslösende Momente. Schülerinnen und Schüler müssen die Kompetenzen erwerben, ihre Fähigkeiten, Wünsche und Interessen zu entdecken und eine Vorstellung vom künftigen eigenen Leben zu entwickeln. Deshalb ist Berufs- und Studien- orientierung als Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung zu ver- stehen. Neue Elemente wie ein Kompetenzfeststellungsverfahren, über dessen Nutzung Sie als Eltern entscheiden können, die Ausweitung von Maßnahmen wie Betriebspraktika, Betriebserkundungen etc. sind verbindlich mit dem neuen Erlass zur Berufsorientierung eingeführt worden.

5.Auch wenn bei einer Übergangsquote von über 40% nicht von einer ausgeprägten sozialen Selektivität des Gymnasiums gesprochen werden kann, zeigen doch alle Schulstudien der letzten Jahre, dass immer noch ein Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern besteht. Auch wenn die Aufgabe hier sicher groß ist, ist es unsere Verpflichtung, mehr Chancengleichheit zu schaffen. Ein Artikel in der FAZ vom 5./6.Mai 2018 hat übrigens auf eine neue OECD-Studie aufmerksam gemacht, die festgestellt hat, dass „G8“ die Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Elternhäusern stärker beeinträchtigt, und zwar insbesondere bei den mathematisch-naturwissen- schaftlichen Kompetenzen. Auch aus dieser Sicht war die niedersächsische Entscheidung zum „G 9“ offenbar richtig.

Inzwischen haben sich der Einsicht, dass „G9“ der richtige Weg ist, eine Reihe von weiteren Ländern, zu denen auch das gern zitierte Vorbildland Bayern zählt, angeschlossen.
6. Zur Chancengleichheit gehört auch die Vergleichbarkeit des Abiturs in den Ländern. Die Sicherstellung eines chancengleichen Zugangs zum Hochschulstudium ist seit mehr als 50 Jahren Thema in der Bildungspolitik. Hier ist in den letzten Jahren viel passiert. Die neue KMK-Vereinbarung zur gymnasialen Oberstufe und zur Abiturprüfung hat eine Angleichung der Anforderungen in den Ländern bewirkt, die gemeinsame Nutzung von Abitur- aufgaben aus dem KMK- Aufgabenpool ist auch ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch ist hier, auch mit Blick auf die Mobilität von Familien mit Kindern, noch einiges zu tun.

Anrede,
der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth hat sich im Jahr 2012 in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ in bemerkenswerter Weise zum „Erfolgsgeheimnis“ des Gymnasiums geäußert. Er sagte: „Das Gymnasium ist … gerade deshalb so erfolgreich, weil es seine eigenen Standards nicht aufgegeben hat. Der fachliche Zugang zur Welt, die reflexive Distanz, Herausforderung als Prinzip und eben nicht primär das liebevolle Verweilen in den schülereigenen Erfahrungen. Dazu gehören Lehrkräfte, die ihr Fach beherrschen und deshalb besser vermitteln können – damit schaffen die Gymnasien ein geistig anregendes Milieu.“
Ich will auch weiterhin dafür sorgen, dass das niedersächsische Gymnasium im Interesse der Schülerinnen und Schüler anspruchsvoll und erfolgreich bleibt.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

 

[dg ids=“2468″]